HANNA
(Sommer 1944 – auf der Hochlandburg
in Transylvanien)
Eigenartige Träume weckten Hanna in
der Dämmerung dieses Frühsommertages. Langsam und etwas zitterig öffnete sie
die Augen und blickte verwirrt in die erste Morgenröte, die ihren Schlafraum erhellte.
Vogelgezwitscher drang durch die weit geöffneten Fenster, leises Waldrauschen
und das Plätschern der nahen Burgquelle. Hanna setzte sich auf und atmete tief
durch. Ein Lächeln huschte über ihr Antlitz und vertrieb die Anspannung aus
ihrem Gesicht, die noch vom Traum verblieben war. In der Luft lag der vertraute
Duft von Wiesenblumen, Wäldern und die Frische des Morgentaus. Ja, sie war zu
Hause und nicht etwa als Gefangene in dieser dunklen Höhle, von der sie eben
noch geträumt hatte – und schon gar nicht in der Gewalt jener finsteren
Gestalten.
Erleichtert
sank sie in die Federn zurück. »Blöde Kerle«, seufzte sie vor sich hin und
betastete ihre scheinbar glühende Stirn. Eine Schweißperle wollte herunter zum
Augenwinkel kullern – sie wischte sie weg und wünschte sich, den Albtraum
genauso einfach aus ihrem Gedächtnis löschen zu können. Hinterhältige Halunken,
überraschend waren sie aus den Büschen gesprungen, hatten sie vom Pferd gezerrt
und wortlos in eine dunkle Höhle verschleppt. »Böser, böser Traum«, flüsterte
sie. Und das gerade heute, an ihrem zwanzigsten Geburtstag, als reichte es
nicht schon, diesen symbolischen Tag des Erwachsenwerdens ganz allein begehen
zu müssen. Der Vater war mit ihren beiden Brüdern im Krieg, und die Mutter war
voriges Jahr gestorben.
Hanna starrte nachsinnend die
immer heller werdende Eichendecke an. Beide Brüder und auch der Vater wussten
nichts vom Tode der Mutter. Sie fürchtete den Tag, an dem die drei, möge das
Schicksal sie wieder gesund nach Hause bringen, vor ihr stehen würden und sie
ihnen die traurige Nachricht verkünden müsste. Es würde ein trauriger Tag
werden und anschließend eine noch viel traurigere Zeit, denn die Mutter war die
Gütige, alles Verstehende und Schlichtende, sie war die Geborgenheit und so warmherzig
– sie war der orientierende Pol gewesen, der alles zusammenhielt. Ihr leerer
Platz riss ein gewaltiges Loch in den Himmel.
Hanna wurde abgelenkt. Draußen
schrie ein Hahn, einer der Wachhunde bellte, bald würde die allmorgendliche
Burgglocke läuten. Sie beschloss, sich noch vor dem Erwachen der anderen
Burgbewohner etwas abzukühlen, denn ihr Körper vibrierte nach wie vor von
diesem furchtbaren Traum. Nackt schritt sie zur offenen Tür, streichelte zuerst
ihre beiden treuen Wolfshunde, die Nacht für Nacht ihren Schlaf bewachten, dann
äugte sie sicherheitshalber nach allen Seiten und ging schließlich gemächlich
zum Brunnen. Dort stülpte sie einen Krug nach dem andern über sich, bis es sie
fröstelte und der Traum nebst allem anderen konfusen Nachgrübeln weggespült
war.
Zurück in ihren Räumen trocknete
sie völlig erfrischt ihren wohlgeformten, sportlichen Körper ab, warf noch
einen fast scheuen Blick in den Spiegel und schlüpfte in eine ihrer geliebten
Reitermonturen – es war eine dieser Einzelkreationen, wie sie nur die Mutter,
bedingt durch ihre indianische Abstammung, hatte anfertigen können. Die Leute
hierzulande sahen es nicht gerne, wenn eine Frau Männerkleidung trug, und schon
gar nicht eine solch ledrige, zottelige Kluft, die von irgendwo jenseits des
großen Ozeans kam. Aber gerade deswegen trug Hanna diese Kleidung andauernd –
zwar gefiel es ihr auch so, gleichzeitig konnte sie aber damit die streng
Konservativen triezen und provozieren. Sie nannte diese Art der Konfrontation
›frei-exotischer Trotz gegen infantile Spießbürgerei‹.
Heute, zu ihrem zwanzigsten
Geburtstag, wählte sie die ganz helle, mit Sioux-Motiven bestickte
Wildlederkluft: mit ganz langen Fransen, engen Hosen, dem langärmligen, weißen
Hemd, Wams, Jägerjacke, den kniehohen Stiefeln und dazu einen breitkrempigen
Hut, den sie ganz zuletzt über ihre langen, schwarzbraunen Haare stülpte. Hanna
lächelte sich im Spiegel an, wohl wissend, dass sie damit auch heute wieder so
manche kleinkarierte Lästerseele dieses kleinen Menschenhaufens in Burg und
Umgebung ärgern würde. Aber sie wusste nur zu gut, dass es unter ihnen auch
viele Sympathisanten gab, die ihre freilebige Art bewunderten – schade nur,
dass diese jüngeren Männer nun alle an der Front kämpften. Die Hiergebliebenen
waren ältere Menschen, Kinder und Kriegsuntaugliche sowie eine Überzahl von
unbefriedigten Frauen, die jede ihrer exzentrischen Ausschweifungen als eine
Art Blitzableiter für ihren eigenen angestauten Frust nutzten und hinter
vorgehaltener Hand über sie lästerten. Manchmal fragte sich Hanna, was diese
Weiber wohl mit ihr anstellen würden, wenn sie hier nicht stellvertretend für
ihren Vater die Burgherrin und zugleich Arbeitgeberin wäre.
Glockenläuten erklang. Allmählich
kam Leben in die alte Burg, die von ihrem Großvater aus Ruinen wieder instand
gesetzt und zu einem Landgut umfunktioniert worden war. Vor fast tausend Jahren
sollte diese Burg von den deutschen Kreuzrittern erbaut worden sein, wusste
Hanna, später diente sie als Trutzburg gegen die Tataren, Petschenegen und Osmanen.
Danach wurde sie als Einsiedelei genutzt, zur Beherbergung und als Tränke für
die einzige Gebirgsstraße durch Transylvanien, bis vor dreihundert Jahren ein
neuer, viel bequemerer Handelsweg tief unten durch die Täler angelegt wurde.
Nach und nach verließen die Menschen die Burg, und letztendlich verwilderte sie
vereinsamt und vergessen in den Wäldern – bis zu dem Tage, als ihr Großvater,
der alte Tom, sich während einer ausgedehnten Jagd hierher verirrte. Auf Anhieb
verliebte er sich in die überwucherte Burg und erwarb einige Jahre später das
gesamte Hochplateau um sie herum. Dafür zahlte er blanke Goldnuggets an die
Provinzverwaltung der kaiserlich und königlichen Donaumonarchie – Goldnuggets,
die er speziell dafür in den kanadischen Rocky Mountains am anderen Ende der
Welt geschürft hatte.
Hanna ließ ihren Blick zum
Waffenschrank gleiten. Sie öffnete ihn und entnahm eines der Jagdgewehre – eine
leichte, äußerst fein gearbeitete Bockbüchsflinte, oben Projektil, unten
Schrot. Es war das Abschiedsgeschenk des alten Tom, bevor er vor wenigen
Jahren, noch vor Beginn dieses furchtbaren Krieges, wieder hinüber nach Kanada
in das Reservat der Assiniboin namens Grizzly Bear’s Head zog. Dort lebte auch
heute noch ihre Stammessippe, die der Crow-Sioux. Seither kamen keine
Lebenszeichen mehr von ihm, so als wollten ihn die riesigen Wälder, von denen
er ihr so viel vorgeschwärmt hatte, für immer und ewig behalten – oder es waren
die Crows aus Saskatchewan, die ihn bereits vor drei Jahrzehnten als weißen
Jäger in ihren Stamm aufgenommen hatten und ihn diesmal anscheinend nicht mehr
freigeben wollten.
Sie selbst war eine halbe Crow –
mütterlicherseits. Trotzdem hatte sie Kanada noch nie gesehen. Ein Hauch von
Wehmut durchzog ihr Gemüt. Nur allzu sehr wünschte sie sich, endlich einmal
ihre roten Stammesverwandten kennen zu lernen, um wenigstens eine flüchtige
Berührung mit den Wurzeln ihrer mütterlichen Herkunft zu erhaschen. Dann könnte
sie auch ihrem roten Großvater begegnen – den guten Freund ihres weißen
Großvaters. Viel hatte sie schon vom alten Ri-Ta-Na gehört, der einer der
letzten echten Medizinmänner des roten Volkes sein sollte. Sein Name bedeutet
so viel wie: ›der von jenseits sieht‹.
Hannas Gesicht erhellte sich,
während Erinnerungen an die Geschichten des alten Tom in ihr aufkamen. »Mädel«,
erzählte er einst, »du hättest deinen Vater erleben sollen, als er da
drüben zum ersten Mal Lay-Shee begegnet ist. Ich sage dir, solch einen
Hornochsen habe ich bis dahin noch nicht gesehen. Zuerst wurde er stumm wie ein
totgeschlagener Fisch, lief kalkweiß an und stotterte nach einer Ewigkeit
unverständliche Brocken. Dann streckte er die Hand zum Gruß aus, vergaß aber,
dass er noch seine lange Flinte festhielt, und riss damit einen Hängekrug von
der Decke, dessen Inhalt, ein weißer Rindensaft, sich über ihn ergoss. Jetzt
aber kommt das Beste: Diese wohlriechende, weiße Rindenflüssigkeit nennen die
Crows Jungferntau – und darin dürfen nur die geschlechtsreifen Jungfrauen vor
einem großen Fest baden, um die Aufmerksamkeit der jungen Männer auf sich zu
ziehen. So, Hanna, nun darfst du dreimal raten, welchen Namen dein Vater auch
heute noch bei den Crows trägt …?«
»Jungfrau«, tippte sie und verkniff sich
das aufkommende Lachen. Der alte Tom nickte und schlug sich mit den Händen auf
die Knie. »Richtig,
Jungfrau nannten sie ihn. Der arme Teufel ging dreimal täglich unter den
Wasserfall und mühte sich vergeblich, das Zeugs wegzubekommen. Und genauso
viele fiese Heiratsanträge machten ihm die schadenfrohen roten Kerle nach jedem
unnützen Bad. Wie eine Mimose duftete er.«
Erneut in Gedanken
versunken, schulterte Hanna das Gewehr, trat hinaus auf die breite
Plankenterrasse und ließ ihren Blick hinauf zum nahen Berggipfel schweifen, auf
dessen Spitze ein weißer Felsen thronte, der zu dieser frühen Stunde aber
rötlich leuchtete: der Dillstein, wie ihn der alte Tom getauft hatte, ohne
jemals zu verraten, was genau hinter diesem Namen steckte.
An dessen Sockel, nach Sonnenuntergang gerichtet, hatte sie ihre
Mutter vor fast einem Jahr bestattet. Sie folgte damit einem indianischen
Brauch, wie es die Mutter auf dem Sterbebett verlangt hatte: auf Stützpfählen
halb liegend gegen Westen aufgebahrt, in der Stammestracht der Crow-Sioux und
in Decken gewickelt und geschnürt, die mit rituellen Symbolen, Lebens- und
Totemmotiven sowie indianisch-nativen Knoten und Quasten versehen waren. Diese
Bestattung hatte ihr damals viel Ärger eingebracht, doch daran wollte Hanna nun
nicht mehr denken.