Wie revolutionär war Darwins "Evolutionstheorie", damals, in der Mitte des 19. Jahrhunderts: Der Mensch stamme vom Wurm ab, und Gott habe ihn nicht aus Erde gebastelt. Und wie fies haben wir Konfirmanden uns 100 Jahre später über den Pfarrer lustig gemacht, dass auch er vom Affen abstamme, was man am besten erkenne, wenn er auf die Kanzel watschele oder während des Lianenschwungs an der Glocke. Später im Kollegium, in den Kneipen und Cafés fachsimpelten wir megageistreich vom Triumph der Wissenschaft über die Dogmatik des Glaubens. Großartigkeit umhüllte uns, und wir waren dem kosmischen Abheben sehr nahe, denn bald schon würden wir die Formel für ALLES elaboriert haben.
Heute aber, als 50-Jähriger, sehe ich das ziemlich gewandelt, ohne auch nur ein Mÿ frommer geworden zu sein. Schuld an dieser Sinneswandlung ist allein meine Katze - und das ging so: Sie ist zahm, aber sie jagt noch immer Mäuse ... in der ganzen Nachbarschaft - obwohl sie leckere Häppchen vom Feinsten bekommt. Sie frisst die Mäuse aber gar nicht - sie spielt lediglich solange mit ihnen, bis diese den Geist aufgeben, indem sie wahrscheinlich einem Herzinfarkt erliegen. Während eines dieser tollwütigen Spielchen, diesmal im Künstleratelier meines Nachbarn, donnerte sie ein Regal um und landete unglücklich darunter. Fazit: Das linke Hinterbein war gebrochen. Mäuse- oder Künstlerfluch!
Einige Stunden später betrachtete ich beim Tierarzt das frisch entwickelte Röntgenbild der gesamten Katze und war verblüfft. Ich lief mit dem frisch vergipsten Stubentiger nach Hause und verglich diese Röntgenbilder mit denen einer mumifizierten Katze aus dem antiken Ägypten: 5.000 Jahre alt - und siehe: Kein einziges Knöchlein war anders. Die Evolution war stehen geblieben! Schreck lass' nach! Darwin, die dumm philosophierten, quer durchsoffenen Nächte und der läutende Pfaffe gingen mir durch den Kopf, gleich einer erleuchtenden Kugel. Die Spezies Katz hatte sich überhaupt nicht verändert in all den ganzen, verdammten fünf Jahrtausenden - Schock & Hilfe!
Entgeistert lief ich zu meinem Nachbarn, dem schon besagten Künstler, der vor zwei Jahren seine Dozentur in Paläontologie endgültig an den Nagel gehängt hatte und nun vorwiegend Vasen töpferte. Ich hielt ihm die beiden Röntgenbilder vor's Antlitz.
"Was nun?", fragte ich mit bangen Blick.
Er grinste vielwissend, räusperte sich und entgegnete erhaben: "Was glaubst du denn, wieso ich nicht mehr doziere?" Er zeigte mit einer einladenden Handbewegung auf all die Tonvasen die er im letzten Jahr eigenhändig geschaffen hatte. Lauter Kunstwerke: Dicke, dünne, hohe, kurze, bunte, breite, flache, runde, ovale, elyptische, eckige, quadratische, Hunderte und Abertausende, so weit das Auge und die Regale reichten.
"Siehste", fuhr er fort, "diese Vasen haben sich so weiterentwickelt - Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat - sie haben sich dem Umfeld angepasst, von Unikat zu Unikat - sie haben sich je nach Temperatur, Licht und Nahrung verändert." Dann hob er die Hand wie Caesar auf dem Triumphwagen und konkretisierte: "Allerdings, nur in meinem Kopf hat diese Evolution stattgefunden, denn ich bin der Schöpfer dieser Vasen - ich bin deren Gott, denn ich schaffe sie eigenhändig aus Tonerde. Und nachts halten sie sogar Gottesdienste ab, zu meinen Ehren und um meinen Namen zu preisen - denn wenn der Nachtwind so über sie zieht, säuseln sie wie Orgelpfeifen - in den mystischsten Tonlagen." Sein Blick verfinsterte sich jäh: "Ja, sie tun es wahrhaftig ... wenn deine Katz nicht grad auf Mäusejagd bei mir ist, sodass meine Vasen sogar mit Regalen nach ihr schmeißen müssen."
Seither glaube ich wieder an Gott! Denn manchmal ist er näher, als man denkt!