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die Gesandte
Vier Reiterscharen, gebildet aus je zehn Dutzend Firr Bolg, ritten in diesen Tagen vor dem großen Ostarafest in alle vier Himmelsrichtungen, weit hinaus in die Gefilde der Stämme, um die von den Heilern auserwählten jungen Männer zum Fest der Fruchtbarkeit abzuholen und an den Tullach na Coibche zu bringen – den Hügel, an dem die Braut dich holt. Jener Tross der dämonenhaften Geistreiter jedoch, der sich nun in scharfem Ritt der römischen Garnison Castra Regina an der Donar-Au näherte, hatte zusätzlich den Auftrag des Großen Druwids von Maag Mell, erneut den von der Rigantona Macha geschaffenen Frieden mit den Römern zu bekräftigen. Bis zur großen Brücke der Garnison würden sie reiten, die mannshohe, geschnitzte Runa Gifu davor in die Erde rammen und warten, bis die Römer auf der anderen Seite der Brücke ihre Speere gleichfalls zur Runa Gifu kreuzten, um somit die Bestätigung des fortwährenden Friedens an den Grenzen zu Raetia und dem Noricum einzuholen.
Doch kurz bevor die dahinpreschende Reiterschar der Firr Bolg die große Brücke von Castra Regina erreichte, trennte sich heimlich die letzte Reitergestalt von dem Staub aufwirbelnden Tross, schlug einen Haken durch die Wälder und näherte sich nach kurzem Ritt einen der Nebenflüsse der Donar-Au. Dort wartete bereits ein Floß der Ambronas samt vier stämmigen Kriegern mit langen, wirren Kopf- und Barthaaren auf den Dämonenreiter. Die Krieger verbeugten sich ehrfürchtig vor ihm, bis dieser vom Pferd stieg. Dann geleiteten sie ihn stillschweigend zum Floß, stachen ab und ruderten flussabwärts. Nach geraumer Zeit erreichten sie die seichte Mündung, an deren rechtem Ufer sich die dunklen Schatten einer unter herabhängenden Weidenruten getarnten Galeere abzeichneten.
Es war sehr außergewöhnlich, dass sich überhaupt eine Galeere die Mühe machte, den starkströmigen Danuvius vom Pontus Euxinus her fast eintausendfünfhundert Meilen stromaufwärts zu rudern. Aber weit merkwürdiger war es, dass dieses Kriegsschiff des Imperiums oben am Segelmast das Banner der zehnten Legion Fretensis gehisst hatte – jener Legion, die der Besatzung des zerstörten Hyerushalayms, inmitten des fernen Judäas, zugeteilt war, am anderen Ende der römischen Welt.
Die schaurige Gestalt kletterte mühelos die Flachsleiter der Galeere empor, schritt langsam bis zur Mitte des schattigen Decks, hielt an und äugte nun in die staunenden, beklommenen Gesichter der schwer bewaffneten, geharnischten Söldner. Ein bereits in die Jahre geratener Decurio näherte sich ihr langsam und sichtbar argwöhnisch. Zögernd streckte er die Hand zum Gruß des Imperiums schräg hoch und ließ diese nach einer Weile wieder sinken, als kein Gegengruß kam. Es war ihm deutlich anzusehen, welches Unbehagen in seiner Brust wühlte, als er dieses sonderbare, stumme Wesen aus Maag Mell anblickte, das die ganze Zeit schon unheimlich reglos vor ihm stand – unbewaffnet und einen ganzen Kopf kleiner als der Decurio, aber umso gefährlicher wirkend. Und als wäre diese zottelige, behaarte Gestalt nicht schon ominös genug, so verzerrten nun noch die gebrochenen Strahlen der untergehenden Sonne, durch die karg belaubten Weidenäste hindurch, die finstere Erscheinung. Die im leichten Wind sich wiegenden Bäume ließen das Abendrot wie zuckende Schlangen auf dem Wesen spielen – bizarr und gespenstisch zugleich.
Der grauhaarige Decurio formte seine Augen zu schmalen Schlitzen, legte seine wettergegerbte Stirn in noch tiefere Falten und hatte Mühe, im zuckenden Lichtspiel Einzelheiten der Gestalt deutlich auszumachen. Eines aber verstand er sofort, nachdem er die lähmende Ausstrahlung dieses Wesens an seinem ganzen Körper spürte: Die sonderbaren Begebenheiten, die man sich im Imperium über dieses Maag Mell erzählte, schienen mit Sicherheit nicht weit hergeholt zu sein.
»Ich bin Decurio Pedan!«, bemühte er sich mit ruhiger, tiefer Stimme zu sprechen. »Ich stehe zu deinen Diensten … Gesandter von Damasia.« Forschend betrachtete er dabei die wilde, bis zu den Hüften reichende feuerrote Mähne im tänzelnden Licht: das fratzenartige Antlitz wie aus Schlangenhaut mit den herausstehenden Reißzähnen eines Berglöwen, die Ohren aus Fledermausflügeln, die Nüstern eines Bären und die schlitzförmigen Augen, in deren Tiefe es hellblau funkelte. In diesem Zwielicht konnte er nur schwer erkennen, ob die Gestalt eine Maske trug, oder ob die bis zu den Füßen pelzige Erscheinung echt war. Gebannt blieb sein Blick an den verborgenen, hellblauen Augen in der Tiefe der bizarren Fratze hängen – sie schienen jetzt das einzig Lebendige an der Gestalt zu sein.
Ein flaues Gefühl aufkommender Schwäche und Ergebenheit breitete sich in Pedan aus und steigerte sich, umso länger er den Blick nicht von den geheimnisvollen, bannenden Augen nehmen konnte. Plötzlich wurde dem alternden Decurio Pedan klar, dass diese hellblauen, jugendlichen Augen hinter der Maske sein Schicksal besiegeln würden. Eine böse Vorahnung kam in ihm auf, und eine ihm bisher unbekannte Beklommenheit breitete sich in seiner Brust aus. Der treu ergebene, in unzähligen Schlachten gediente Krieger Pedan, der zuerst an der Seite des Imperators Vespasianus in Britannia gegen die Kelten gekämpft hatte, später in Gallien gleichfalls gegen Kelten und noch später im syrischen Orient die Galater unterworfen hatte, dieser Krieger des Imperiums hatte soeben begriffen, dass dieser Auftrag wohl sein letzter sein würde. Das sagten ihm die unheimlichen Augen hinter der stummen Fratze, die aus dem Land Damasia, aus Maag Mell, kamen, ganz deutlich, denn in Maag Mell lebten doch ausschließlich Kelten, soviel er wusste, die nun womöglich Sühne erfahren wollten. Weise Druiden und Sironen sollten es sein, Hüter des großen Zaubers und aller Geheimnisse des Überirdischen. Wahrscheinlich wurde er deswegen hierher entsandt, um seine Strafe für das viele von ihm vergossene keltische Blut zu empfangen.
Nur scheinbar gefasst harrte der Decurio Pedan der Dinge, die nun unausweichlich auf ihn zukommen würden, und fragte sich zweifelnd, ob Domitianus, der jüngste Sohn des Imperators, ihn wirklich nur aus diesem Grunde ans Ende der Welt gesandt hatte, hierher, in die Nähe des keltischen Maag Mell. Vielleicht aber war es sogar die Seherin Macha selbst, die seinen Tod als Geste der Versöhnung verlangte, als Zeichen des Friedens und als ein Akt der Rache und Genugtuung.
Angst vor dem Tod hatte Pedan noch nie – nie in seinen jungen Jahren und auch nicht in der jetzigen Überreife seiner zur Neige gehenden Söldnerzeit, im angebrochenen Abend seines bewegten Lebens. Das Einzige, was er irgendwie fürchtete, war eine noch nicht gesühnte Sünde – eine Tat, die ihm von den Göttern noch nicht vergeben worden war, sodass ihm ein Ehrenplatz im Hades verwehrt wäre. Gerecht gelitten und gestritten hatte er, nichts anderes als die Legionen des Imperiums und deren harte Gesetze kennend. Er diente mit Bravour den Imperatoren für einen kargen Sold, dessen Hälfte er nach Hunderten von Kämpfen stets für Opfergaben an die Götter der gefallenen Feinde ausgab – dies mit aufrichtiger Reue. Was übrig blieb, reichte gerade für ein mehr als nur bescheidenes Leben in Enthaltsamkeit. Er, der Decurio Pedan, war frei von Sünde. Wieso also sollte er sich vor dem Tod fürchten? Mit einer Münze unter der Zunge würde er den Styx hinunter in die Unterwelt fahren, und nicht einmal der grimmige Wachhund Cerberus würde ihm den verdienten seelischen Frieden bei Hades missgönnen. Schlicht, einfach und gerecht hatte er gelebt, keine Güter angehäuft, nicht gemordet und geraubt, keine Frauen vergewaltigt noch geschwängert, deren Kinder nach seinem Tode hungrig umherlaufen müssten. Er hatte zwar in vielen Kriegen unzählige Krieger getötet, doch dafür waren die Schlachten eben da – es war der ewige Unsinn des Tötens oder Getötetwerdens, der wohl solange in den Köpfen der Wesen bestehen würde, solange es Hungertriebe, Neid und Dummheit gab, wusste Pedan. Dieser verwirrten Einrichtung des Kriegsgottes Mars zu folgen, war keine Sünde, wusste er ebenfalls – sonst hätten die allmächtigen Götter diesem Wahnsinn längst ein Ende bereitet. Vielmehr sah er darin eine Stärkung der eigenen Seele, nur dann zu töten, wenn sein eigenes Leben bedroht war. Und so hatte er stets in seinen Schlachten gefochten, indem er dem Feind den ersten Hieb, die erste Absicht zu töten, überließ – was anschließend geschah, war lediglich Notwehr.
Während er diesen wirren Gedanken nachging, starrte der alterfahrene, besonnene Decurio Pedan noch immer in die hellblauen Augen der Dämonenfratze und fragte sich, ob gleich ein Blitz aus ihnen zucken würde, um ihm den Kopf zu spalten, oder ob die Kreatur vor ihm bald sein eigenes Kurzschwert ziehen würde, um ihm denselben abzutrennen. Ihm war, als hätte er für kurze Zeit Feuerflammen in diesen Augen gesehen – oder waren es nur die Strahlen der Abendsonne, die durch die Weidenäste zuckten?
Um die geheimnisvollen Augen herum bildete sich unverkennbar ein heller Schein – die Gestalt selbst schien sich aufzulösen. Nur die stechenden, weißen Pupillen konnte Pedan noch deutlich erkennen und merkte zugleich, wie seine Gedanken ungewollt in die Vergangenheit zurückschwebten. Wie ferngesteuert schweiften seine herrenlos gewordenen Erinnerungen neun Jahre zurück, genauestens gezielt in das letzte Geschehen des Jüdischen Krieges hinein: inmitten des großen Brandes des Tempelareals zu Hyerushalaym, der letzten Bastion der eingekesselten, verzweifelten Söhne Israels – die letzte Schlacht um Zion.
Etwas in Pedans Brust bäumte sich auf, wie ein unterdrückter Schluckauf, und er fragte sich, ob in diesem Geschehen wohl die ihm entgangene, noch ungesühnte Tat lauerte. Welch einfältiges Bestreben aus fast nichtigem Anlass, überlegte er gleichzeitig. Aufsteigende Willenlosigkeit und Kummer machten sich in ihm breit. Noch einmal bäumte sich sein bereits gebrochener Widerstand gegen den fesselnden Blick auf, doch er resignierte und spürte deutlich, dass dieses stumme Wesen bereits zu tief in seinen Erinnerungen bohrte und längst Herr seiner Sinne geworden war.
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